Portfolio Published in XL Foto Magazin Edtion: Der Mensch in der Mega-City
Die moderne Metropolis hat die Straße zur anonymen Transitzone degradiert. Der Mensch hetzt hier wie ferngesteuert durch den Korridor mächtiger Monomental- bauten, deren Betonfinger ambitioniert in höhere Sphären streben. Doch je mehr Passanten durch das Geflecht der Straßen wuseln, desto mehr verliert sich der Einzelne in der bewegten Masse. Die hastigen Blicke der Bürger erscheinen bei der Begegnung entrückt, wenn sie nicht ohnehin gänzlich in der Welt auf ihren Smartphone-Screens versinken. Licht, Wind und Wetter bahnen sich derweil Schleusen durch die Geographie des Stadt- rasters zu den Menschen am Pflasterstrand. Je größer die Stadt, desto schneller scheint das Tempo, mit dem diese dort durch die Straßen hetzen. Neben den endlosen Autokolonnen belebt sich die Bühne einer nur scheinbar inhaltsleeren Inszenierung. Aus dem gemütlichen Spaziergänger des 19. Jahrhunderts ist ein Dauerläufer geworden. Begegnungen dauern jetzt oft Sekundenbruchteile und nur Mikro-Gesten und hastige Blicke lassen auf eine Reaktion beim Kreuzen individueller Wegstrecken schließen. Bas Losekoot sucht genau diese flüchtigen Mikro-Momente, wenn er seine Kamera an exponierten Stellen der Stadt platziert und wartet. Den Holländer interessiert bei seinem Projekt „In Company of Strangers“, wie sich die Populationsdichte auf das Verhalten der Passanten in einigen der dichtest besiedelten Großstadtregionen der Erde auswirkt. Seit 2011 hat der Fotokünstler in acht Mega-Citys mit annähernd 20 Millionen Einwohnern das Individuum im öffentlichen Raum be- obachtet. Bas Losekoot betrachtet die Orte, an denen der Einzelne den geringsten Abstand zum Nächsten hat und achtet auf jene Augenblicke, die sich sonst im Alltag verlieren. Mit einer von Filmsets bekann- ten Beleuchtungstechnik schafft er ein hyperreales Ambiente, in dem er den zufälligen Moment festhält. Sehr häufig, sagt er, starren dabei die Passanten einfach nur im 45-Grad-Winkel auf den Boden. Seine Bilder betrachtet er als eine Einladung, die Condition humaine zu studieren und Vergleiche zwischen den Mega-Citys anzustellen. Unterscheiden sich diese Menschen in New York, Sao Paulo, Seoul, Mumbai, Lagos oder Hong Kong überhaupt noch voneinander oder begegnen wir hier immer wieder dem gleichen Grundtypus? „Meine Fotos sind eine Einladung, mit Fremden intim zu werden“, sagt Losekoot. Zeigt er uns in diesen modernen Stadtbildern von Metropolis den Spiegel des entseelten Verlorenseins? In Italo Calvinos Roman „Die unsichtbaren Städte“ bemerkt der kluge Marco Polo im Gespräch mit dem Mongo- lenherrscher Kublai Khan zu einer „Höllenstadt“ als Stadttyp der Zukunft: „Gibt es eine, so ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir tagtäglich wohnen, die wir durch unser Zusammensein bilden. Zwei Arten gibt es, nicht darunter zu leiden. Die eine fällt vielen recht leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil davon werden, dass man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und erfordert dauernde Vor- sicht und Aufmerksamkeit: suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben.“ Manfred Zollner